... wen würde die SPD wählen?

14. September 2021

Zuerst: ein Disclaimer

Die im Folgenden präsentierte Auswertung basiert auf Archivdaten des Wahl-O-Mat®s der Bundeszentrale für politische Bildung. Die BPB ist jedoch nicht Urheber dieser Analyse − noch hat sie in sonst irgendeiner Art und Weise auf die Erstellung derselbigen Einfluss genommen!

Und überhaupt sollten die hier präsentierten Inhalte lieber mit einem (oder wenigstens mit einem halben) Augenzwinkern betrachtet werden 😏

Eine Wahlentscheidungshilfe für Deutschland

Seit der Bundestagswahl 2002 gibt es den Wahl-O-Mat in Deutschland. Insbesondere zur Mobilisierung von Jung- und Erstwählern wurde er damals von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) eingeführt, dürfte inzwischen aber auch von einem breiteren Bevölkerungsanteil genutzt werden. So wurde er im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 bereits über 15 Millionen mal und insgesamt - seit seiner Einführung - über 85 Millionen mal aufgerufen.

Dabei war damals die Idee der “Voting Advice Application” (VAA) schon gar nicht mehr neu. Unsere Nachbarn aus den Niederlanden waren schneller: Der StemWijzer wird als Urvater aller VAAs angesehen. Bereits 1989 ist er zuerst als Booklet und in den 90ern dann als Floppy-Disk erschienen.

Auch wenn von den Disketten damals nicht mehr als 50 Exemplare verkauft wurden, so sind die Auswirkungen der Wahlentscheidungshilfen mittlerweile nicht mehr zu unterschätzen: Die Heinrich Heine Universität Düsseldorf begleitet den Wahl-O-Mat bereits von Anfang an von der wisschenschaftlichen Seite. Einen positiven Effekt auf die politische Bildung konnte sie dabei zwar bisher nicht feststellen - sehr wohl aber auf die Wahlbereitschaft. In einer kürzlich veröffentlichten Meta-Analyse wurde außerdem gezeigt, dass Nutzer von VAAs im Mittel 1,5 mal häufiger ihre Wahlentscheidung ändern. Das dürfte auch die Parteien aufhorchen lassen.

Spätestens seitdem ich wahlberechtigt bin nutze ich den Wahl-O-Mat selbst. Auch wenn der Wahl-O-Mat offiziell keine Wahlempfehlung abgeben will, ist der Nutzen nicht von der Hand zu weisen. Durch die Einführung neuer Funktionen und neue Möglichkeiten, das eigene Ergebnis weiter zu erforschen und Statements der verschiedenen Parteien zu vergleichen, erwische ich mich wenigstens einmal pro Bundestags- oder Landtagswahl dabei, wie ich mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringe, als ich mir vorgenommen habe.

Eine unscheinbare Notiz unter der Ergebnisanzeige hat mich dabei auf die Idee für ein interessantes Data Science-Projekt gebracht:

Hohe Übereinstimmungen Ihrer Antworten mit mehreren Parteien bedeuten nicht zwangsläufig eine inhaltliche Nähe dieser Parteien zueinander.

Sicherlich − so würde man doch denken − haben ähnliche Übereinstimmungswerte doch wenigstens eine gewisse Aussagekraft. Wenn es allerdings darum gehen soll, die Inhalte der Wahlprogramme mithilfe des Wahl-O-Mat’s zu vergleichen, stellt sich diese Frage aber gar nicht. Die einzelnen Positionen der verschiedenen Parteien sind ja frei verfügbar. Man müsste also nur ein simples Auswerteprogramm schreiben und könnte dann zum Beispiel die Frage stellen: Wenn das Wahlprogramm der SPD den Wahl-O-Mat ausfüllen würde, welche Empfehlung würde der Wahl-O-Mat dann abgeben?

Wie funktioniert der Wahl-O-Mat?

Dazu muss man sich kurz vergegenwärtigen, wie der Wahl-O-Mat eigentlich funktioniert. Und damit meine ich nicht die Benutzung des Tools. Ich gehe davon aus, dass der/die Leser*in damit - zumindest ansatzweise - vertraut ist. (Ansonsten gibt's die Details hier.) Ich spreche von der Methodik: Wie berechnet der Wahl-O-Mat, wie hoch meine Zustimmung zu einer bestimmten Partei ist?

Tatsächlich ist die Mathematik dahinter ziemlich simpel: Beim Ausfüllen des Wahl-O-Mats wird der Nutzer aufgefordert verschiedene These mit “stimme zu”, “neutral” oder “stimme nicht zu” zu bewerten. Die Zustimmung zu einer bestimmten These wird mit 2 Punkten angerechnet. Bei einer einfachen Abweichung wird 1 Punkt angesetzt (sprich, entweder die Partei oder der Nutzer bewerten die These mit “neutral” und der andere mit “stimme zu” oder “stimme nicht zu”). Bei gegensätzlichen Positionen gibt es 0 Punkte. Man kann den Positionen also bspw. die folgenden Zahlenwerte zuweisen:

PositionZahlenwert
stimme zu+1
neutral0
stimme nicht zu−1

Der Zustimmungswert zu einer bestimmten These ergibt sich dann aus der vorzeichenbereinigten Differenz zwischen den Positionen von Wähler und Partei:

Zustimmungswert = Betrag aus Position Wähler minus Position Partei

Insgesamt wird man beim Wahl-O-Mat mit 38 Thesen konfrontiert, d.h. bei Übereinstimmung aller Positionen mit einer bestimmten Partei kann der Nutzer maximal 2×38=76 Punkte erreichen. (Die doppelte Gewichtung, die beim Wahl-O-Mat noch individuell für jede These ausgewählt werden kann, sei hier ignoriert.) Der “Übereinstimmungswert” mit einer Partei in Prozent − im Folgenden “Wahl-O-Mat Score” genannt − errechnet sich also aus der Summe der Zustimmungswerte geteilt durch die Maximalpunktzahl:

Score = Summe Zustimmungswerte geteilt durch 78

Auf diese Weise kann man nun alle Positionen aller Parteien gegeneinander abgleichen. (Die Parteien “füllen den Wahl-O-Mat aus”.) Um nun also die Frage zu beantworten, welche Partei die SPD − und alle anderen Parteien − bei der Bundestagswahl 2021 wählen sollten:

Wahl-O-Mat-Score der 2021 zur Bundestagswahl zugelassenen Parteien, wenn jede Partei mit ihren jeweiligen Positionen den Wahl-O-Mat ausfüllen würde - von links nach rechts und von oben nach unten absteigend nach den Bewertungen der Partei DIE LINKE sortiert. Mit der Maus über das Raster fahren, um detaillierte Werte anzeigen zu lassen.
(Hinweis zur Partei für Gesundheitsforschung: Die Partei nimmt zwar an allen Wahl-O-Maten teil, bewertet aber jede Position mit “neutral”, weshalb ihre Einstufung nur wenig aussagekräftig ist. Sie wurde der Vollständigkeit halber nicht entfernt.)

Im obigen Graph sind die Wahl-O-Mat Scores aller Parteien zueinander dargestellt. Die Übereinstimmung der Positionen einer Partei mit sich selbst ist natürlich jeweils 100%. Der Graph ist um die 100%-Diagonale zwecks besserer Lesbarkeit gespiegelt (er enthält also alle Informationen doppelt). Außerdem sind die Scores nach Übereinstimmung mit der Partei DIE LINKE sortiert, um von links nach rechts und von oben nach unten so etwas wie das politische Spektrum abzubilden.*

*: Auch wenn DIE LINKE vielleicht nicht die Partei ist, die man am weitesten am linken Rand verordnen würde… Interessanterweise ist der Wahl-O-Mat Score zwischen DIE LINKE und AfD der niedrigste Wert überhaupt, weshalb letztere auch ganz rechts angeordet ist. Natürlich gibt es sogar am rechten Rand Parteien mit noch extremeren Positionen, aber dazu − und warum die Vorstellung vom eindimensionalen politischen Spektrum ohnehin problematisch ist − weiter unten mehr.

Natürlich muss man betonen, dass die Aussagekraft zur inhaltlichen Übereinstimmung zweier Parteien mit dieser Methodik immer noch sehr begrenzt ist. Zwei Parteien können eine gute Übereinstimmung bei populären Themen haben und sich trotzdem in wesentlichen Streitfragen widersprechen. Wie oben erwähnt, möchte selbst die bpb das Wahl-O-Mat Ergebnis nicht als Wahlempfehlung verstehen. Und ein Kritikpunkt an dem Tool ist ohnehin, dass die Parteien an den Rändern des politischen Spektrums nicht gut genug berücksichtigt werden, weshalb es bisweilen bei unscheinbaren Nutzern zu “überraschenden” Ergebnissen kommt. Der NPD wurde gar vorgeworfen, mittels Wahl-O-Mat zu versuchen “mit zustimmungsfähigen Themen Akzeptanz zu erzielen”. Die bpb versucht, dem entgegenzuwirken, indem sie extremere Positionen in den Wahl-O-Mat aufnimmt. Das ändert aber wenig daran, dass - um endlich die Frage vom Anfang zu beantworten - die SPD, laut Wahl-O-Mat, die (vom Verfassungsschutz beobachtete) MLPD wählen sollte! (Und um die Überparteilichkeit zu wahren: Auch die CDU/CSU kommt hier nicht gut weg mit einem NPD-Score von 68%.) Weitere Probleme mit der Methode werden weiter unten noch diskutiert.

Nichtsdestotrotz sieht der obige Graph in etwa so aus, wie man es erwarten würde. Die linksliberalen, grünen Parteien können untereinander hohe Übereinstimmungswerte aufweisen, was man an dem dunkelgrünen Bereich im oberen linken Eck gut erkennen kann. So erzielt die SPD selbstverständlich auch einen hohen Wahl-O-Mat-Score mit DIE LINKE (74%) sowie mit den GRÜNEN (71%). Der Score von SPD zu Noch-Koalitionspartner CDU/CSU ist mit 51% überraschend niedrig. Zum Vergleich: Der Wert lag vor der letzten Bundestagswahl noch bei 70%! Kehrt die Partei also inzwischen wirklich wieder zu ihren Wurzeln zurück?

Der grüne Bereich im unteren rechten Eck zeigt die gute Übereinstimmung der konservativen und wirtschaftsliberalen Parteien untereinander, wie bspw. der Score von CDU/CSU und dem ehemaligen Koalitionspartner FDP (68%) zeigt.

Für mich persönlich waren aber vor allem auch die Bewertungen der Kleinparteien interessant. Viele der, zum Teil auch ganz frischen, Parteien konnte ich so inhaltlich zum ersten mal einordnen.

Aber die Überlegung zu den (Wunsch-)Koalitionspartnern bringt uns zu einer weiteren interessanten Auswertung: Welches sind − laut Wahl-O-Mat − die besten Regierungskoalitionen?

Ein Koalitionsrechner der etwas anderen Art

Unsichere Umfragen vor der Bundestagswahl 2021 lassen die Medien beschwören: Die Wahl wird so spannend wie nie. Gleich mehrere Kombination der großen Parteien könnten rein rechnerisch zu regierungsfähigen Mehrheiten gelangen. Auch in den Landtagen ist neben der “GroKo” mit “Schwarz-Grün”, “Jamaika”- oder “Deutschland”-Koalition inzwischen fast alles vertreten.

Aber Koalitionsverhandlungen sind schwierig. Also was, wenn wir den Wahl-O-Mat fragen, welche Fraktionen am besten zusammenpassen?

Für den folgenden Graphen wurde der durchschnittliche Wahl-O-Mat Score für verschiedene Regierungsbündnisse bestimmt. Bei mehr als zwei Koalitionspartnern wurden alle Kombinationen betrachtet, also bspw. für eine Koalition aus den drei Parteien “Partei A”, “Partei B” und “Partei C”:

Gemittelter Score = Mittelwert aus: Score A-B, Score A-C und Score B-C

Das Ergebnis sieht wie folgt aus:

Durchschnittliche Wahl-O-Mat Scores für einige, nach der Bundestagswahl 2021 möglichen Koalitionen.

Wie oben schon angedeutet, schneiden erwartungsgemäß “Rot-Grün” und “Schwarz-Gelb” gut ab. Die Beste Übereinstimmung erzielt aber tatsächlich ein Rot-Rot-Grünes Bündnis, was vor allem an der hohen Übereinstimmung von DIE LINKE und GRÜNE liegt (87%). Ein rein Schwarz-Grünes Bündnis scheint aus Wahl-O-Mat-Sicht hingegen keine gute Idee (33%).

In den Landtagen sind jedoch alle der hier aufgeführten Koalitionen längst Realität. Das folgende Schaubild wurde mithilfe aller Wahl-O-Mate der jeweiligen Landtagswahlen ermittelt:

Durchschnittliche Wahl-O-Mat Scores der Regierungskoalitionen in den verschiedenen Bundesländern. Mit der Maus über die Karte fahren, um detaillierte Werte anzeigen zu lassen. (Sowohl für Niedersachsen, als auch für Mecklenburg-Vorpommern sind zu den letzten Landtagswahlen keine Wahl-O-Mat-Daten verfügbar.)

Auch hier zeichnet sich ein ähnliches Bild ab, es gibt aber durchaus auch regionale Unterschiede. So scheinen CDU und FDP laut Wahl-O-Mat in Nordrhein-Westfalen etwas besser zu harmonieren als auf Bundesebene. (Wohlgemerkt tritt die CDU im Bund gemeinsam mit der CSU an.) Auch Schwarz-Grün kommen in Baden-Württemberg − nach mehr als fünfjähriger Zusammenarbeit in der Landtagskoalition − mit 59% deutlich besser weg als man vom diesjährigen Bundestags-Wahl-O-Maten vermuten würde.

Natürlich wäre es gewagt zu behaupten, der gemittelte Wahl-O-Mat-Score wäre ein guter Indikator für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Die “Jamaika”-Koalition in Schleswig-Holstein, welche in der obigen Darstellung mit 45% die schlechteste Wertung erreicht, erzielt im Bundesvergleich beste Umfragewerte. Vermutlich könnte man auch argumentieren, eine bessere Metrik wäre eine gewichtete Mittelung auf Basis der (erwarteten) Sitzverteilung. Jedoch hängt die Machtverteilung im Regierungsbündnis auch nicht zuletzt vom Verhandlungsgeschick der jeweiligen Parteien ab. Daher würde ich bezweifeln, dass das zu “genaueren” Ergebnissen führt.

Trotzdem vermute ich, dass die obige Auswertung durchaus einen Vorgeschmack auf die Koalitionsverhandlungen geben kann: So war der Wahl-O-Mat-Score für die Jamaika-Koalition für die Bundestagswahl 2017 mit 56% dem der großen Koalition (70%) deutlich unterlegen. Die FDP hat die Verhandlungen zur ersteren damals bekanntermaßen platzen lassen. Vielleicht hätte man sich die Mühe ersparen können, hätte man vorher den Wahl-O-Mat gefragt? 😉

Apropos Vergleich zur letzten Bundestagswahl: Wäre es nicht interessant, wenn man an den verschiedenen Wahl-O-Mat-Daten der letzten Jahre Schwankungen in der politischen Ausrichtung der Parteien erkennen könnte. Und…

Wie war das noch mal mit dem Rechtsruck?

Ich muss zugeben, als ich angefangen habe, diese Daten auszuwerten, war ich zuerst nicht ganz sicher, wonach ich überhaupt schauen soll. Ein Punkt hat mich aber vor allem interessiert: Kann man an den Wahl-O-Mat-Daten der letzten Jahre die “Neuausrichtung” der AfD zum politisch rechten Rand erkennen? (Während der Recherche ist mir aufgefallen, dass der Münchner Merkur den gleichen Gedanken hatte.) Die meisten können sich sicher gut erinnern, wie die Partei zu Beginn vor allem noch für seine eurokritischen Positionen bekannt war. Dann kam die sogenannte “Flüchtlingskrise”. Und in der Folge sind auch mehrere Politiker der etablierten Parteien mit zweifelhaften Aussagen aufgefallen, auch, um der AfD die Wähler wieder abzugraben. Die Rede war (und ist zum Teil immer noch) von einem “Rechtsruck”, der durch Deutschland geht.

Um den Rechtsruck in den Wahl-O-Mat-Daten zu identifizieren, bräuchte man also eine Art “rechten Benchmark”, also eine Partei, die schon seit längeren am rechten Rand des politischen Spektrums verharrt. Dazu sollte sich die NPD eignen. Der Abgleich der Wahl-O-Mat-Positionen der verschiedenen Parteien mit denen der NPD müsste ein guter Maßstab für den Hang zu autoritären, rechten Inhalten sein.

Der nächste Graph zeigt den Wahl-O-Mat-Score der Bundestagsparteien mit der NPD seit 2009:

"Wahl-O-Mat Scores" aller größeren Parteien mit der NPD als "Rechtsaußen-Benchmark" für die letzten vier Bundestagswahlen.

Der Sprung der AfD von 49% in 2013 auf 63% in 2017 fällt dabei besonders auf. Bei den anderen Parteien lässt sich allerdings ein Rechtstruck allerhöchstens noch bei der CDU/CSU erkennen (von 41% NPD-Score 2013 auf 49% 2017). Bei der LINKEN und den GRÜNEN war die Übereinstimmung mit der NPD 2009 sogar noch vergleichsweise hoch und nimmt seitdem stetig ab. Alle anderen Schwankungen sind nicht groß genug für eine starke Aussagekraft.

Als ein Grund für die hohe Popularität der AfD wird unter anderem oft die lange Regierungszeit der großen Koalition genannt. Die “GroKo” hat zu einem Zusammenrücken der (ehemals) großen Volksparteien SPD und CDU geführt. Dadurch wurde die Opposition geschwächt und am rechten Rand ist eine Lücke entstanden, in die sich die AfD gedrängt hat, so die Argumentation. Auch das lässt sich aus dem obigen Graph erahnen: Die SPD- und CDU-Kurven rücken bis 2017 zunächst zusammen. Wenn man die beiden Parteien direkt miteinander vergleicht, entwickelt sich der Wahl-O-Mat-Score (SPD vs. CDU) von 37% (2005) über 47% (2009) und 54% (2013) bis auf 70% (2017)! Bei der diesjährigen Bundestagswahl fällt der Wert dann wieder stark ab - auf 51%. Auch das ein Indiz dafür, dass die SPD “zu ihren Wurzeln zurückkehrt”, gleichzeitig möglicherweise die Rückgesinnung auf konservativere Werte bei der CDU/CSU nach der Ära Merkel.

So gut die präsentierten Daten die politischen Tendenzen der letzten Jahre in Deutschland abzubilden scheinen, so ist diese letzte Betrachtung jedoch mit der größten Vorsicht zu genießen: Zum einen ist es nur schwer zu argumentieren, dass die unterschiedlichen Wahl-O-Maten aus den letzten Jahren miteinander vergleichbar sein sollen: Die Thesen, die beim Wahl-O-Mat bewertet werden müssen, ändern sich mit dem aktuellen Zeitgeschehen. Während z.B. 2017 noch das Thema Migration im Vordergrund stand, so spielt spätestens seit der Europawahl 2019 der Klimawandel eine größere Rolle. Zum anderen wird das Ergebnis verzerrt vom oben erwähnten Versuch der Parteien, den Wahl-O-Mat auszunutzen, um bei zustimmungsfähigen Themen zu punkten. Vor allem aber ist die Idee vom politischen Spektrum an sich eine starke Vereinfachung. Eine Alternative möchte ich im Folgenden präsentieren:

Das politische Spektrum in 2D

Der “politische Kompass” stellt den Versuch dar, politische Gesinnung in einem zweidimensionalen Modell darzustellen. Für eine detaillierte Erklärung, sowie einen Fragebogen zur Selbsteinstufung möchte ich gerne auf die Erfinder (politicalcompass.org) verweisen. Im Prinzip geht es aber darum, dass politische Positionen auf zwei Achsen dargestellt werden: Die horizontale Achse bildet das wirtschaftliche Spektrum von wirtschaftlich links außen (maximale staatliche Kontrolle der Wirtschaft) nach rechts außen (komplett deregulierte Wirtschaft) ab, die vertikale Achse beschreibt die soziale Gesinnung, von unten nach oben: libertär nach autoritär. Ganz links wäre etwa der Marxismus verortet, ganz rechts der Neoliberalismus. Die senkrechte Achse verläuft von Anarchie (ganz unten) zu Diktatur (ganz oben).

Das folgende Diagramm sollte das verdeutlichen:

Einordnung der Parteien in den "politischen Kompass" für den Wahl-O-Mat der Bundestagswahl 2021; ermittelt aus den Wahl-O-Mat Scores aller Parteien mit einem "autoritären Benchmark" (senkrechte Achse) und einem "ökonomisch rechten Benchmark" (horizontale Achse). Mit der Maus über die Punkte fahren, um die Namen anzuzeigen. Die meisten Kleinparteien sind der Übersichtlichkeit halber grau dargestellt. (Die V-Partei³ und SSW fehlen in der Darstellung, da sie mit DIE LINKE bzw. DKP überlappen.)

Die Darstellung stellt wohlgemerkt keine absolute Verortung der Parteien auf dem politischen Kompass dar, sondern nur die relative Position der Parteien zueinander. Sie folgt, wenn man die jeweiligen Wahl-O-Mat-Positionen von 2021 mit einem “ökonomisch rechten Benchmark” und einem “autoritären Benchmark” abgleicht.*

*: Die Benchmarks habe ich dieses mal selbst erstellt. Dabei hab ich versucht, mich in die jeweiligen extremen Lager hineinzuversetzen und die Thesen entsprechend zu bewerten. Mein Verständnis von Politiktheorie ist zugegebenermaßen sehr begrenzt. Wer sich also noch mal vergewissern möchte − hier die Bewertungen zum Nachlesen:

Tabelle ausklappen

TheseÖko. rechtsAuth.
1. Auf allen Autobahnen soll ein generelles Tempolimit gelten
2. Deutschland soll seine Verteidigungsausgaben erhöhen
3. Bei Bundestagswahlen sollen auch Jugendliche ab 16 Jahren wählen dürfen
4. Die Förderung von Windenergie soll beendet werden
5. Die Möglichkeiten der Vermieterinnen und Vermieter, Wohnungsmieten zu erhöhen, sollen gesetzlich stärker begrenzt werden
6. Impfstoffe gegen Covid-19 sollen weiterhin durch Patente geschützt sein
7. Der für das Jahr 2038 geplante Ausstieg aus der Kohleverstromung soll vorgezogen werden
8. Alle Erwerbstätigen sollen in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sein müssen
9. Das Recht anerkannter Flüchtlinge auf Familiennachzug soll abgeschafft werden
10. Auf den Umsatz, der in Deutschland mit digitalen Dienstleistungen erzielt wird, soll eine nationale Steuer erhoben werden
11. Die traditionelle Familie aus Vater, Mutter und Kindern soll stärker als andere Lebensgemeinschaften gefördert werden
12. Spenden von Unternehmen an Parteien sollen weiterhin erlaubt sein
13. Studentinnen und Studenten sollen BAföG unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern erhalten
14. In Deutschland soll es generell möglich sein, neben der deutschen eine zweite Staatsbürgerschaft zu haben
15. Bundesbehörden sollen in ihren Veröffentlichungen unterschiedliche Geschlechtsidentitäten sprachlich berücksichtigen
16. Die Ostsee-Pipeline "Nord Stream 2", die Gas von Russland nach Deutschland transportiert, soll wie geplant in Betrieb gehen dürfen
17. Der Solidaritätszuschlag soll vollständig abgeschafft werden
18. Das Tragen eines Kopftuchs soll Beamtinnen im Dienst generell erlaubt sein
19. Die Zulassung von neuen Autos mit Verbrennungsmotor soll auch langfristig möglich sein
20. Der Bund soll mehr Zuständigkeiten in der Schulpolitik erhalten
21. Der Bund soll Projekte zur Bekämpfung des Antisemitismus stärker finanziell unterstützen
22. Chinesische Firmen sollen keine Aufträge für den Ausbau der Kommunikationsinfrastruktur in Deutschland erhalten dürfen
23. Der Staat soll weiterhin für Religionsgemeinschaften die Kirchensteuer einziehen
24. Der kontrollierte Verkauf von Cannabis soll generell erlaubt sein
25. Deutschland soll aus der Europäischen Union austreten
26. Die Landeslisten der Parteien für die Wahlen zum Deutschen Bundestag sollen abwechselnd mit Frauen und Männern besetzt werden müssen
27. Stationäre Behandlungen im Krankenhaus sollen weiterhin über eine Fallpauschale abgerechnet werden.
28. Auf hohe Vermögen soll wieder eine Steuer erhoben werden
29. Bei der Videoüberwachung öffentlicher Plätze soll Gesichtserkennungssoftware eingesetzt werden dürfen
30. Auch Ehepaare ohne Kinder sollen weiterhin steuerlich begünstigt werden
31. Ökologische Landwirtschaft soll stärker gefördert werden als konventionelle Landwirtschaft
32. Islamische Verbände sollen als Religionsgemeinschaften staatlich anerkannt werden können
33. Der staatlich festgelegte Preis für den Ausstoß von CO2 beim Heizen und Autofahren soll stärker steigen als geplant
34. Die Schuldenbremse im Grundgesetz soll beibehalten werden
35. Asyl soll weiterhin nur politisch Verfolgten gewährt werden
36. Der gesetzliche Mindestlohn soll spätestens im Jahr 2022 auf mindestens 12 Euro erhöht werden
37. Der Flugverkehr soll höher besteuert werden
38. Unternehmen sollen selbst entscheiden, ob sie ihren Beschäftigten das Arbeiten im Homeoffice erlauben

Damit wird nun deutlicher, wo die Unterschiede zwischen den verschiedenen Parteien genau herkommen:

Es scheint also, dass wenn die “Neue Initiative Soziale Marktwirtschaft” von den GRÜNEN als “Verbotspartei” spricht, dann meinen sie damit vor allem Verbote für Wirtschaft und Industrie. Persönliche Freiheiten scheinen bei der Partei sogar weitaus stärker im Vordergrund zu stehen als bei den Konservativen und sogar mehr als bei der FDP.

Man kann auch erahnen, warum die Übereinstimmung der LINKEN mit der NPD vor einigen Jahren noch so hoch war (siehe oben). Damals war die Partei mutmaßlich noch autoritärer eingestellt, wenngleich ökonomisch weiter links. (Schließlich ist sie aus der SED-Nachfolgepartei PDS hervorgegangen.) Im ganz links oberen Eck wäre etwa die Sowjetunion oder Nordkorea verortet. Inzwischen scheint DIE LINKE eher in der linksliberalen Ecke unten links angekommen. Die NPD wiederum ist eher oben mittig verordnet. Am ganz oberen Extrem wäre wohl vor 80 Jahren noch die NSDAP angeordnet worden, bzw. inzwischen das moderne China. Die AfD ist vermutlich weniger “nach rechts” als viel mehr “nach oben” gerutscht über die letzten Jahre. Und die gute Übereinstimmung zwischen CDU/CSU und AfD (70%, siehe oben) rührt wohl hauptsächlich von der gemeinsamen wirtschaftsliberalen Haltung.

Um es nochmal zu betonen: der oben abgebildete “politische Kompass” stellt keine absolute Einordnung dar, und kann daher nicht mit der Darstellung von politicalcompass.org verglichen werden. Die relative Positionierung der Parteien untereinander hilft aber durchaus, die unterschiedlichen politischen Positionen einzuordnen, vor allem von den Kleinparteien, bei denen es sonst nur schwierig ist, einen Überblick zu gewinnen. Die relative Positionierung stimmt aber auch − mit Ausnahme der GRÜNEN − überraschend gut mit der Charakterisierung von Political Compass überein!

Fazit

Der Wahl-O-Mat-Daten eignen sich hervorragend, um einen schnellen Überblick über die unterschiedlichen Parteien zu erhalten. Mitunter lassen sich dabei Tendenzen in der Änderung politischer Ausrichtungen abschätzen und − mithilfe einiger “Benchmark-Bewertungen” − Positionen übersichtlich im zweidimensionalen Spektrum darstellen. Dass die Übereinstimmungswerte ein guter Prädiktor für Zusammenarbeit in Koalitionen darstellen können, darf mindestens angezweifelt werden. Und auch sonst müssen die Ergebnisse mit Vorsicht genossen werden. Die Themen der Wahl-O-Mat Thesen sind über die Jahre hinweg nicht unbedingt konsistent. Auch versuchen die Parteien bisweilen die Ergebnisse zu beeinflussen, indem sie Thesen großzügig interpretieren. Und letztlich können selbst mit 38 Thesen nur eine kleine Bandbreite der politisch und gesellschaftlich wichtigen Themen abgedeckt werden.

Am Ende des Tages ist das Ganze aber vor allem eins: eine spaßige Data Science-Übung. Wenn da nebenbei noch etwas politische Bildung hängen bleibt − umso besser!

 

Ach ja: Die Heatmaps zu allen Europawahlen und Bundestagswahlen seit 2004, sowie zu den letzten Landtagswahlen gibt es übrigens hier!

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